Interview mit Prof. Dr. phil. Gudrun Marci-Boehncke
Professorin für Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg
15.9.2008

Prof. Dr. phil. Gudrun Marci-Boehncke
Frau Prof. Dr. Marci-Boehncke, wie sind Sie zum Thema Leseförderung gekommen?
Zum Thema Leseförderung bin ich beruflich durch meine Professur für Kinder- und Jugendliteratur an der Hochschule in Ludwigsburg gekommen, wobei ich schulisch besonders die Notwendigkeit sehe, Jugendlichen das Lesen schmackhaft zu machen. Als Lesefan ist mir aber die Leseförderung auch privat und als Mutter dreier Kinder ein wichtiges Anliegen.
Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptprobleme der Leseförderung in Deutschland?
Ein Problem ist, dass Lesen heute mit einer gewissen Medienmoralisierung diskutiert wird. Es gibt auf der einen Seite das „Gute Buch“, das auch meistens gemeint ist, wenn von Leseförderung gesprochen wird. Auf der anderen Seite stehen als Konkurrenz die Medien – als die „Zeitstaubsauger“, die die Kinder vom Lesen des „Guten Buches“ durch weniger gute Beschäftigungen abhalten. Ich glaube, dass diese Medienmoralisierung der derzeitigen Entwicklung nicht gerecht wird. Lesen bedeutet heute nicht mehr nur zwischen zwei Pappdeckeln Eingebundenes zu lesen, sondern im Internet, auf dem Teletext, in E-Books zu lesen. Es gibt viele andere Medien, in denen gelesen wird – auch Film erfordert eine Form von Lesen. Hier sind die Codes andere, aber auch sie erfordern und schulen literarisches Verstehen und bedeuten eine kreative Auseinandersetzung mit Stoffen und Symbolen, die letztendlich die Basis von Lesegenuss ist. Und das findet heute einfach auf vielfältige Art und Weise statt. Falsch ist dann aber die Schlussfolgerung, dass Kinder deshalb weniger Bücher lesen.
Wenn man sich die Daten der Attraktivität von Lesen anschaut, bleibt diese Tätigkeit in absoluten Zahlen konstant. Das was sich ändert, sind die Zeitfenster, die die Beschäftigung mit anderen Medien in Relation dazu einnehmen.
Wie würden Sie sich folglich eine moderne Leseförderung wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass Lesen von Anfang an im Medienverbund betrachtet wird und damit auch das Lesen und die Leseförderung selbst aus dem Ruf der Strebertätigkeit herausfindet. Wichtig ist, dass mit Leseförderung eben auch Lesen in anderen Medien gemeint ist und dass sich das Image einfach der modernen Medienwelt anpasst. Ich glaube, dass Hauptschüler sehr viele Sachen sehr gut lesen können, nur die werden häufig in unseren Leseerhebungen so gar nicht abgefragt. Bei dem, was sie interessiert und was sie lesen können, müssen gerade die Leseschwachen positive Verstärkung erhalten. Viele Leistungsschwächen und –verweigerungen sind eher Ausdruck mangelnden Selbstbewusstseins als „Bildungsschicksal“.
In welchem Alter sollte Leseförderung ansetzen und warum?
Leseförderung soll meiner Ansicht direkt nach der Geburt beginnen. Schon mit der Spieluhr erleben Kinder bestimmte Rhythmen, eine feste Zeitstrukturierung und erfahren im Grunde genommen erste literarische Muster. Ich habe mit meinen Kindern das Anschauen von Büchern begonnen, als die Kinder sich auf erste Gegenstände konzentrieren konnten, also im Krabbelalter von einem Vierteljahr. Da wurden schon die Leporellos angebissen, die Bilder angeschaut und ein bestimmtes Ritual eingeübt. Das kann man machen, noch bevor in irgendeiner Weise ein Verständnis für sonstige Geschichten, Inhalte, Kontexte möglich ist. Eine Leseförderung der öffentlichen Hand sollte meiner Ansicht nach auf jeden Fall beim Eintritt in die Kindertagesstätte beginnen. Ganz egal ob mit 1 1/2 oder drei Jahren – in dem Moment, wo Kinder von öffentlicher Seite betreut werden, sollte die Leseförderung mit dabei sein.
Welchen Einfluss hat heute die Familie auf das Leseverhalten der Kinder?
Eltern besitzen Vorbildcharakter und geben ihre eigene Wertschätzung von Lesen an ihre Kinder weiter. Zur literarischen Erziehung gehört dann neben dem Buchlesen auch das Lesen an Computern oder in Zeitungen, sowie bewusstes Musikhören oder auch einen Spielfilm anzuschauen und zu verstehen, dazu. Eltern sollten ihren Kindern die Möglichkeit geben, mit verschiedenen Lesemedien in Kontakt zu treten und vor allen Dingen sollten sie die Gelegenheit suchen, mit den Kindern über das Gelesene zu sprechen. Die Anschlusskommunikation über Mediales – egal ob aus Büchern oder Filmen – halte ich für einen ganz wichtigen Faktor, der zur Wertschätzung literarischer Bildung führt. Wenn Eltern diese wertorientierte Erziehung leisten gibt es gute Chancen, dass die Kinder später selber in dieser Kulturtechnik weitermachen. Eltern sind extrem wichtig, denn sie sind die Sozialisationsinstanz, die von Anfang an aktiv ist. Ich glaube, dass die Stiftung Lesen mit ihrer Initiative „Lesestart“ auf dem ganz richtigen Wege ist, möglichst früh an die Familien zu appellieren. Wichtig ist, möglichst frühzeitig und andauernd mit den Eltern in Kontakt zu bleiben, ihnen ihre Möglichkeiten aufzuzeigen und sie darin zu bestätigen. Viele Eltern haben Sorge, sich einer Leseförderung ihrer Kinder zu widmen, weil sie sich selbst als nicht besonders aktive Leser wahrnehmen. Hier ist es ganz wichtig, auch das Selbstbewusstsein dieser Eltern zu stärken, die selber nur ein begrenztes Leseinteresse haben und die ihre eigenen Kompetenzen nicht besonders hoch einschätzen. Sie können trotzdem viel dazu beitragen, die eigenen Kinder zum Leser werden zu lassen.
Viele Kinder freuen sich auf den Schulanfang und lernen zunächst begeistert das ABC. Schon gegen Ende der Grundschulzeit macht es plötzlich keinen Spaß mehr. Woher rührt diese Tendenz?
Ich glaube dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend. Einmal, dass die Kinder im vierten Schuljahr schon soviel lesen können, dass es „fürs Grobe“ reicht. Das ist so ähnlich wie beim Schwimmen: sie können sich über Wasser halten, kommen vorwärts, gehen nicht mehr unter – wozu da noch die ganz feinen Details einüben? Für die Orientierung bzw. die Teilhabe an der Gesellschaft reicht Kindern vielfach das, was sie bis zum 4. Schuljahr an Lesefähigkeit gelernt haben. Wenn sie aber dann nicht weiterhin die Möglichkeit haben, den Genuss des Versinkens in guter Literatur zu erfahren, gerät das Bücherlesen vielleicht etwas in den Hintergrund.
Ein weiterer Grund ist, dass in der vierten Klasse die Bewegungsräume der Kinder immer größer werden und sie sich auch an anderen Freizeitangeboten orientieren, und denen erst einmal Prioritäten einräumen. Da kommt das Lesen in unserer mobilen Gesellschaft einfach ein bisschen kurz. Das sollte man einfach gelassener betrachten können. Natürlich ist von pädagogischer Seite auch daran zu denken, dass in der Schule etwas mit der Leseförderung schief läuft. Aus meiner eigenen Beobachtung als Mutter kann ich dazu folgendes sagen: Mein Sohn hatte bereits mit sechs Jahren, als er in die Schule kam, von mir drei Harry-Potter-Bände vorgelesen bekommen. Ich war also ganz sicher, dass er sich für Literatur interessiert. Aber dann fing er mit diesen einfachen Lesetexten im Fibelunterricht an, die keinerlei intellektuelle Anforderungen an die Kinder richten. Da ist ihm das Lesen regelrecht verleidet worden.
Ich denke, dass stärker darauf geachtet werden sollte, dass die Kinder neben dem eigentlichen Lesen lernen auch anspruchsvolle, dem individuellen Entwicklungsstand gemäße Leseangebote bekommen. Vorlesen durch den Lehrer bleibt wichtig. Das muss auch bei uns in der Ausbildung stärker geübt werden – sowohl hinsichtlich der Lektüreauswahlkompetenz als auch ganz praktisch inszenatorisch.
Wir haben eine hohe Dominanz weiblicher Lehrkräfte in Schulen, die häufig ihre eigenen Lesepräferenzen zum Gegenstand des Unterrichts machen. Mir hat einmal eine Lehrerin gesagt, sie würde sich selbst nicht für Abenteuerbücher interessieren, dann könne sie die auch im Unterricht schlecht vermitteln. Die „Erfurter Lesestudie“ bestätigt solche Beobachtungen. Lehrer sollten kontinuierlich mit den Angeboten aktueller Kinder- und Jugendliteratur und in den Interessen der Kinder auf den neuesten Stand gebracht werden. Kontinuierliche lesedidaktische Lehrerfortbildungen sollten dazu verpflichtend werden. Texte wie „Rolltreppe abwärts“ waren zwar mal ganz gut, sind aber viel zu alt. Viele Lehrer nehmen aber lieber Altbekanntes mit dem Argument, für die Schüler sei der Text ja immer wieder neu. Lehrer und gerade Lehrerinnen müssen außerdem berücksichtigen, dass Jungen andere methodisch-didaktische Präferenzen haben als Mädchen.
Dann dominiert in der vierten Klasse für Jungen der Wettbewerb untereinander. Da beginnt die Pubertät – da ist die „Competition“ ein zentraler Begriff. Die Auseinandersetzung mit dem Buch als Kommunikationspartner ist nicht wettbewerbsorientiert. Jungen haben in diesem Alter aber eine hohe Präferenz für alles was mir „Wer ist der Stärkere“ zu tun hat. Ich glaube, man sollte deswegen nicht panisch reagieren, sondern sich klar machen, dass das Entwicklungsphasen sind, in denen insbesondere Jungen eher keine Bücher lesen, sondern z.B. lieber Fußballtabellen. Aber so lernen sie das Lesen diskontinuierlicher Texte und wenn die Eltern in der Kindheit eine ausreichende Basis gelegt haben, dann fangen die Kinder auch irgendwann wieder mit dem Lesen an.
Nehmen Sie an, Sie hätten einen Bildungsetat von einer Million Euro zur freien Verfügung. Was würden Sie am liebsten damit umsetzen?
Ich nehme jetzt mal Ihre eine Million Euro als pars pro toto: Ich hätte da verschiedene Ideen. Eine wäre, Thomas Gottschalk den deutschen Jugendliteraturpreis in einer Konzerthalle moderieren zu lassen, dazu Hauptschulklassen einzuladen und eine Metal-Band dazuzunehmen. Möglicherweise auch das Ganze als eine Open-Air Veranstaltung auf der Loreley mit Lesenacht in Zelten organisieren..
Interview: Andrea Steinbrecher, Stiftung Lesen
Zum Thema Leseförderung bin ich beruflich durch meine Professur für Kinder- und Jugendliteratur an der Hochschule in Ludwigsburg gekommen, wobei ich schulisch besonders die Notwendigkeit sehe, Jugendlichen das Lesen schmackhaft zu machen. Als Lesefan ist mir aber die Leseförderung auch privat und als Mutter dreier Kinder ein wichtiges Anliegen.
Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptprobleme der Leseförderung in Deutschland?
Ein Problem ist, dass Lesen heute mit einer gewissen Medienmoralisierung diskutiert wird. Es gibt auf der einen Seite das „Gute Buch“, das auch meistens gemeint ist, wenn von Leseförderung gesprochen wird. Auf der anderen Seite stehen als Konkurrenz die Medien – als die „Zeitstaubsauger“, die die Kinder vom Lesen des „Guten Buches“ durch weniger gute Beschäftigungen abhalten. Ich glaube, dass diese Medienmoralisierung der derzeitigen Entwicklung nicht gerecht wird. Lesen bedeutet heute nicht mehr nur zwischen zwei Pappdeckeln Eingebundenes zu lesen, sondern im Internet, auf dem Teletext, in E-Books zu lesen. Es gibt viele andere Medien, in denen gelesen wird – auch Film erfordert eine Form von Lesen. Hier sind die Codes andere, aber auch sie erfordern und schulen literarisches Verstehen und bedeuten eine kreative Auseinandersetzung mit Stoffen und Symbolen, die letztendlich die Basis von Lesegenuss ist. Und das findet heute einfach auf vielfältige Art und Weise statt. Falsch ist dann aber die Schlussfolgerung, dass Kinder deshalb weniger Bücher lesen.
Wenn man sich die Daten der Attraktivität von Lesen anschaut, bleibt diese Tätigkeit in absoluten Zahlen konstant. Das was sich ändert, sind die Zeitfenster, die die Beschäftigung mit anderen Medien in Relation dazu einnehmen.
Wie würden Sie sich folglich eine moderne Leseförderung wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass Lesen von Anfang an im Medienverbund betrachtet wird und damit auch das Lesen und die Leseförderung selbst aus dem Ruf der Strebertätigkeit herausfindet. Wichtig ist, dass mit Leseförderung eben auch Lesen in anderen Medien gemeint ist und dass sich das Image einfach der modernen Medienwelt anpasst. Ich glaube, dass Hauptschüler sehr viele Sachen sehr gut lesen können, nur die werden häufig in unseren Leseerhebungen so gar nicht abgefragt. Bei dem, was sie interessiert und was sie lesen können, müssen gerade die Leseschwachen positive Verstärkung erhalten. Viele Leistungsschwächen und –verweigerungen sind eher Ausdruck mangelnden Selbstbewusstseins als „Bildungsschicksal“.
In welchem Alter sollte Leseförderung ansetzen und warum?
Leseförderung soll meiner Ansicht direkt nach der Geburt beginnen. Schon mit der Spieluhr erleben Kinder bestimmte Rhythmen, eine feste Zeitstrukturierung und erfahren im Grunde genommen erste literarische Muster. Ich habe mit meinen Kindern das Anschauen von Büchern begonnen, als die Kinder sich auf erste Gegenstände konzentrieren konnten, also im Krabbelalter von einem Vierteljahr. Da wurden schon die Leporellos angebissen, die Bilder angeschaut und ein bestimmtes Ritual eingeübt. Das kann man machen, noch bevor in irgendeiner Weise ein Verständnis für sonstige Geschichten, Inhalte, Kontexte möglich ist. Eine Leseförderung der öffentlichen Hand sollte meiner Ansicht nach auf jeden Fall beim Eintritt in die Kindertagesstätte beginnen. Ganz egal ob mit 1 1/2 oder drei Jahren – in dem Moment, wo Kinder von öffentlicher Seite betreut werden, sollte die Leseförderung mit dabei sein.
Welchen Einfluss hat heute die Familie auf das Leseverhalten der Kinder?
Eltern besitzen Vorbildcharakter und geben ihre eigene Wertschätzung von Lesen an ihre Kinder weiter. Zur literarischen Erziehung gehört dann neben dem Buchlesen auch das Lesen an Computern oder in Zeitungen, sowie bewusstes Musikhören oder auch einen Spielfilm anzuschauen und zu verstehen, dazu. Eltern sollten ihren Kindern die Möglichkeit geben, mit verschiedenen Lesemedien in Kontakt zu treten und vor allen Dingen sollten sie die Gelegenheit suchen, mit den Kindern über das Gelesene zu sprechen. Die Anschlusskommunikation über Mediales – egal ob aus Büchern oder Filmen – halte ich für einen ganz wichtigen Faktor, der zur Wertschätzung literarischer Bildung führt. Wenn Eltern diese wertorientierte Erziehung leisten gibt es gute Chancen, dass die Kinder später selber in dieser Kulturtechnik weitermachen. Eltern sind extrem wichtig, denn sie sind die Sozialisationsinstanz, die von Anfang an aktiv ist. Ich glaube, dass die Stiftung Lesen mit ihrer Initiative „Lesestart“ auf dem ganz richtigen Wege ist, möglichst früh an die Familien zu appellieren. Wichtig ist, möglichst frühzeitig und andauernd mit den Eltern in Kontakt zu bleiben, ihnen ihre Möglichkeiten aufzuzeigen und sie darin zu bestätigen. Viele Eltern haben Sorge, sich einer Leseförderung ihrer Kinder zu widmen, weil sie sich selbst als nicht besonders aktive Leser wahrnehmen. Hier ist es ganz wichtig, auch das Selbstbewusstsein dieser Eltern zu stärken, die selber nur ein begrenztes Leseinteresse haben und die ihre eigenen Kompetenzen nicht besonders hoch einschätzen. Sie können trotzdem viel dazu beitragen, die eigenen Kinder zum Leser werden zu lassen.
Viele Kinder freuen sich auf den Schulanfang und lernen zunächst begeistert das ABC. Schon gegen Ende der Grundschulzeit macht es plötzlich keinen Spaß mehr. Woher rührt diese Tendenz?
Ich glaube dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend. Einmal, dass die Kinder im vierten Schuljahr schon soviel lesen können, dass es „fürs Grobe“ reicht. Das ist so ähnlich wie beim Schwimmen: sie können sich über Wasser halten, kommen vorwärts, gehen nicht mehr unter – wozu da noch die ganz feinen Details einüben? Für die Orientierung bzw. die Teilhabe an der Gesellschaft reicht Kindern vielfach das, was sie bis zum 4. Schuljahr an Lesefähigkeit gelernt haben. Wenn sie aber dann nicht weiterhin die Möglichkeit haben, den Genuss des Versinkens in guter Literatur zu erfahren, gerät das Bücherlesen vielleicht etwas in den Hintergrund.
Ein weiterer Grund ist, dass in der vierten Klasse die Bewegungsräume der Kinder immer größer werden und sie sich auch an anderen Freizeitangeboten orientieren, und denen erst einmal Prioritäten einräumen. Da kommt das Lesen in unserer mobilen Gesellschaft einfach ein bisschen kurz. Das sollte man einfach gelassener betrachten können. Natürlich ist von pädagogischer Seite auch daran zu denken, dass in der Schule etwas mit der Leseförderung schief läuft. Aus meiner eigenen Beobachtung als Mutter kann ich dazu folgendes sagen: Mein Sohn hatte bereits mit sechs Jahren, als er in die Schule kam, von mir drei Harry-Potter-Bände vorgelesen bekommen. Ich war also ganz sicher, dass er sich für Literatur interessiert. Aber dann fing er mit diesen einfachen Lesetexten im Fibelunterricht an, die keinerlei intellektuelle Anforderungen an die Kinder richten. Da ist ihm das Lesen regelrecht verleidet worden.
Ich denke, dass stärker darauf geachtet werden sollte, dass die Kinder neben dem eigentlichen Lesen lernen auch anspruchsvolle, dem individuellen Entwicklungsstand gemäße Leseangebote bekommen. Vorlesen durch den Lehrer bleibt wichtig. Das muss auch bei uns in der Ausbildung stärker geübt werden – sowohl hinsichtlich der Lektüreauswahlkompetenz als auch ganz praktisch inszenatorisch.
Wir haben eine hohe Dominanz weiblicher Lehrkräfte in Schulen, die häufig ihre eigenen Lesepräferenzen zum Gegenstand des Unterrichts machen. Mir hat einmal eine Lehrerin gesagt, sie würde sich selbst nicht für Abenteuerbücher interessieren, dann könne sie die auch im Unterricht schlecht vermitteln. Die „Erfurter Lesestudie“ bestätigt solche Beobachtungen. Lehrer sollten kontinuierlich mit den Angeboten aktueller Kinder- und Jugendliteratur und in den Interessen der Kinder auf den neuesten Stand gebracht werden. Kontinuierliche lesedidaktische Lehrerfortbildungen sollten dazu verpflichtend werden. Texte wie „Rolltreppe abwärts“ waren zwar mal ganz gut, sind aber viel zu alt. Viele Lehrer nehmen aber lieber Altbekanntes mit dem Argument, für die Schüler sei der Text ja immer wieder neu. Lehrer und gerade Lehrerinnen müssen außerdem berücksichtigen, dass Jungen andere methodisch-didaktische Präferenzen haben als Mädchen.
Dann dominiert in der vierten Klasse für Jungen der Wettbewerb untereinander. Da beginnt die Pubertät – da ist die „Competition“ ein zentraler Begriff. Die Auseinandersetzung mit dem Buch als Kommunikationspartner ist nicht wettbewerbsorientiert. Jungen haben in diesem Alter aber eine hohe Präferenz für alles was mir „Wer ist der Stärkere“ zu tun hat. Ich glaube, man sollte deswegen nicht panisch reagieren, sondern sich klar machen, dass das Entwicklungsphasen sind, in denen insbesondere Jungen eher keine Bücher lesen, sondern z.B. lieber Fußballtabellen. Aber so lernen sie das Lesen diskontinuierlicher Texte und wenn die Eltern in der Kindheit eine ausreichende Basis gelegt haben, dann fangen die Kinder auch irgendwann wieder mit dem Lesen an.
Nehmen Sie an, Sie hätten einen Bildungsetat von einer Million Euro zur freien Verfügung. Was würden Sie am liebsten damit umsetzen?
Ich nehme jetzt mal Ihre eine Million Euro als pars pro toto: Ich hätte da verschiedene Ideen. Eine wäre, Thomas Gottschalk den deutschen Jugendliteraturpreis in einer Konzerthalle moderieren zu lassen, dazu Hauptschulklassen einzuladen und eine Metal-Band dazuzunehmen. Möglicherweise auch das Ganze als eine Open-Air Veranstaltung auf der Loreley mit Lesenacht in Zelten organisieren..
Interview: Andrea Steinbrecher, Stiftung Lesen